Nils'  Interview mit Mike Seifert vom Magazin BreakOut, November 2002
Strassenjungs : die Punk-Opposition

1977, die Sex Pistols hatten gerade Ihr Debut "Never mind the Bollocks" vorgelegt und The Clash Ihren selbstbetitelten Erstling, war Punkrock endgültig das ganz grosse neue Ding. Die Major Firmen rissen sich um die jungen Wilden in zerrissenen Jeans und Sicherheitsnadeln im Ohr, und Deutschlands erste Punkband durfte ihren LP-Einstand "Dauerlutscher" bei CBS veröffentlichen. Die Frankfurter Strassenjungs, nur echt in dieser Schreibweise, waren Vorreiter.
2002 feiern sie ihr Fünfundzwanzigjähriges, betiteln ihr 13. Werk treffend "Jubeljahr" und veröffentlichen darauf als Bonus das komplette Album "Bombenstimmung" von 1987 in remasterter Version. Eine gute Gelegenheit für einen Rückblick auf ein Vierteljahrhundert Punk-Opposition - als solche betrachtet Mastermind Nils Selzer die Kapelle durchaus. Der einztige Frontmann (Gesang und Gitarre), der heute aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr live mit den Strassenjungs auftritt, sondern im Hintergrund als alleiniger Songschreiber und Produzent agiert, nutzt den Anlass für eine Rückschau auf 25 Jahre Politik und die Kommentare der Hessen Punks dazu. "Zeitgeist im Zeitraffer" nennt er das. 

Nils : "1977 - ein historisches Jahr: Elvis war gestorben, aber - die Strassenjungs waren geboren! Elvis haben wir auch einen Song gewidmet. 1977 - das war auch Baader-Meinhof, staatliche Terroristen-Hysterie. Besonders in Frankfurt: Ich wohnte da in einer WG und eines morgens um Fünf stand das Terror- Sondereinsatz-Kommando vor der Tür. Wie im Film: MP im Anschlag, alle an die Wand. "Verdacht auf Terrorzelle", hiess es, unsere Nachbarn hätten uns denunziert. Und zwar, jetzt kommt's: weil wir keine Gardinen vorm Fenster hatten! "

BreakOut : Mit sowas hat man sich damals verdächtig gemacht. Mit der Nummer "Spiesser am Spiess" karikierten die Strassenjungs später die bundesrepublikanische Wirklichkeit des biederen Kleinbürgertums.

Nils : "New Wave und Punk wurden von immer mehr Leuten gehört, auch wegen der Textaussagen. Es ging gegen Abhängigkeit, Oberflächlichkeit und dumpfen Konsumismus, um Bewusstseinserweiterung und Konzentration auf das Wesentliche, gegen den Operetten-Pop-Rock, der damals total beliebt war. Back-to-the-roots-Stimmung war das. (*)
Und es gab so ein Revival von Hasch, zehn Jahre nach der Hippiezeit. Underground-Schriftsteller wie Borroughs fand ich klasse. Es war was faul im Staat, und verantwortlich waren Banken, Konzerne, Atomindustrie. Solche Dinge flossen auch in unsere Musik ein, etwa in "Bankfurt". 
Die Normalos waren noch ziemlich verklemmt, so dass wir mit unseren Sex-Songs gleich mal Sendeverbot bekamen. Songs über Onanie - "Jeder Mensch ist mal alleine" - hoho! Dabei ist es ja wissenschaftlich erwiesen, dass guter Sex auch Aggression und Gewalt reduziert. Und Aggression und Gewalt kamen dann auf der Vollidiotenseite auf in Form von Neonazis. Da gab's dann Demos, und wir haben 1979 beim ersten "Rock gegen Rechts"-Festival gespielt."

BreakOut : Dann kamen die Achziger. 

Nils : "In Frankfurt die Startbahn West Demos und der Häuserkampf. Man demonstrierte für bezahlbare Wohnungen und gegen den Abbruch von Häusern von Profitgeiern. Da gibt's auch einige Songs von uns. Und Aids kam auf, da haben wir auf einigen Benefizen gespielt, um die Leute zu unterstützen und die Diffamierung zu bekämpfen.  "

BreakOut : Nato-Nachrüstungs-Doppelbeschluss, in Deutschland die "Wende": Schmidt wurde gestürzt, ein Oggersheimer Saumagen wurde Kanzler, im März 1983 Neuwahlen - die Kohl-Ära begann, und die Grünen zogen erstmals in den Bundestag ein. Ostermärsche, Menschenketten, noch alles in bester Erinnerung.
"Aber vielleicht kennen einige Leute das nicht mehr", gibt Nils zu bedenken. Für Ihn bedeuteten die Eighties auch erstmals erschwingliche Computer.

Nils : "Auf einem C-64 hab ich damals herumgespielt, fand ich total aufregend und spannend. Und es ging in der Musik los mit Techno und Dance. Die Bands produzierten Sequenzer- und Loop-Songs für die Massen, 
und die beschränkten Leute haben's echt gekauft. Und dann, 1986 der Atom-GAU in Tschernobyl - hat mich doch ziemlich umgehauen. 1979 hatte ich darüber schon einen Song gemacht, "Panik in Frankfurt" und die Leute sagten nur: Ach hör doch auf, die sind doch sicher, die Dinger. Das hat man ja dann gesehen."

BreakOut : Ein Lichtblick war für ihn Gorbatschow mit seiner Glasnost-Politik, die Nummer "Gorby" widmete Selzer ihm, "der Russland aus der Diktatur geführt und schliesslich den Weg für die deutsche Einheit bereitet hat." Politik, man merkts, war dem heute 47-jährigen stets wichtig. 

Nils : "Viele dachten,  Punk ist, wenn der Sänger nicht singen kann, keiner kann wirklich ein Instrument spielen, und man brüllt dazu dann "haut die Bullen"! Das war für mich nicht Punk, sondern Selbstorganisation und weg von der ganzen Abhängigkeit".

BreakOut : Selzer gründete das Label Tritt Record auf dem schon das zweite Album der Strassenjungs erschien, und betreibt es noch immer. 

Nils : "Du hast halt weniger Chancen, kriegst kein Radio und kein TV, aber das ist halt der Preis für die Freiheit. Weniger Kohle aber frei."

BreakOut : Die Neunziger macht er im Schnelldurchlauf: 

Nils : "Golfkrieg, die USA wollen ans Öl und spielen sich auf als Weltpolizei - damals Bush senior, heute Bush junior: auch ein Revival, könnte man zynisch sagen. Internet kam gross auf in den Neunzigern, was gerade für uns als Independent-Band ein sehr gutes Medium ist, weil wir unter www.strassenjungs.de sehr viele Leute erreichen können. Es gab immer mehr Naturkatastrophen, und vielleicht begreifen die Leute so langsam, dass solche Katastrophen auch durch menschengemachte Dinge begünstigt werden wie Flussbegradigungen, und wählen die Parteien nicht mehr, die sowas fördern. Erst wenn immer mehr Leute bis zum Hals im Wasser stehen, kommen auch immer mehr zum Denken."

BreakOut : Wir sind somit im Jahre 2002 angelangt. Nächste Pläne der Strassenjungs: Eine DVD mit Konzertaufnahmen für alle, die diese Band noch nie live gesehen haben. Es müssen ja nicht immer die Toten Hosen oder die Ärzte sein, wenn's um Deutschen Punk geht. 

Text: Mike Seifert 

(*) Anmerkung: Ich fand, es war ein Wiederentdecken von Werten, die schon in der alten asiatischen Philosophie wichtig waren und auch in Europa eine lange Tradition haben. Ich denke da an die 'allseitige Entwicklung der Persönlichkeit' bei Marx, Philosophen wie Adorno und Marcuse, oder das 'antikonsumistische Manifest' vom Filmregisseur P.P. Pasolini.  (Nils)
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